Sollst du lügen?

Es gibt so Tage, da bin ich einfach traurig. Einfach ist nicht wahr. Man ist nie einfach traurig. Traurigsein ist schwer. Dazu zu stehen vielleicht schwerer. Ich betrachte das Foto meines Mannes, das immer noch auf dem kleinen Schränkchen neben der Miniatururne steht und sage:
»Ich liebe dich.«
»Sollst du lügen?«, fragte er darauf stets.
Sollst du lügen?! Dieser Satz verfolgt mich, seit er gestorben ist. Hat er mir wirklich nicht geglaubt, dass ich ihn geliebt habe? Noch liebe? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass er mich geliebt hat. Ich muss gar nicht erklären, warum ich das einfach so behaupte, was wirklich einfach ist.

Vielleicht hat er gar nicht gewusst, was sein »Sollst du lügen?« eines Tages mit mir anrichten könnte. Wir haben es nie abgeklärt. Warum auch? Keiner von uns hat wirklich darüber nachgedacht, dass er vor mir sterben würde, auch wenn der Krebs in seinem Körper älter als meiner war.  Letztendlich starb er auch nicht daran. Es war sein Diabetes.
»So einfach ist das«, höre ich ihn.
»Ach«, sage ich, »das war es nie.«

An manchen Abenden fahre ich mit meinem Finger über sein Foto. Es ist nicht so, als würde ich ihn berühren, es ist anders und trotzdem tröstlich. Erinnerungen bauen sich auf. Momente, in denen wir einfach nur lebten, uns treiben ließen, lachten, tanzten, sangen. Dazwischen fielen wir in tiefe Phasen tödlicher Traurigkeit, die uns an Orte zurückbrachte, denen wir entkommen waren. Aber nie ganz.
»Ich schmecke noch das Wasser, das von der Wand tropfte«, flüsterte er manchmal.
»Ich rieche die morastige Luft, es ist als stünde ich in dem Raum.«
Er zog mich fast immer auf sich, grinste frech und streichelte mir über die Stirn, als wolle er meine Bilder wegzaubern, was ihm gelang, während ich versagte.
Wie gern … beginnen viele meiner Gedanken … hätte ich …

Damals entfernt sich jeden Tag um Kilometer mehr. Ich halte fast krampfhaft an unserer Vergangenheit fest, sollte ich doch eher die Gegenwart annehmen.
»Und leben«, sagt er.
Das Schicksal hat es gut gemeint, als es uns abermals zusammenbrachte.
»Gut«, denke ich, »dass ich nicht an Zufälle glaube.«

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