Diesmal wird es die Wahrheit sein

Die meisten meiner Gedanken beginnen mit diesem »Weißt du noch?«, das sich in meinem Kopf, wie eine Wand, aufstellt.
»Damals«, denke ich, als sei es 100 Jahre her.
»Erzähle es«, sagst du.

Silvester 2000
Wir feierten mit einigen Freunden, deinem Chef und dessen Bruder. Es war super, wir haben viel gelacht. Weihnachten war geschafft, ein neues Jahr lag vor uns. Ich musste Neujahr arbeiten und kam halb betrunken in der Bäckerei an. Meinen Kolleginnen ging es nicht anders. Der Tag schien endlos lang, um 20.30 Uhr machten wir den Laden zu, um 21 Uhr waren wir fertig und konnten endlich nach Hause gehen. Du lagst auf dem Sofa.
»Bist du immer noch oder schon wieder voll?«
Keine Antwort. Du lagst da, hattest noch die schwarze Anzughose und das weiße Hemd an, das bis zur Hälfte aufgeknöpft war. Du sahst so schön aus. Ich küsste dich und legte mich ins Bett. Bis zum 06.01. dachte ich, würdest du schon wieder nüchtern sein. Bis dahin hattest du frei. Aber du wurdest nicht nüchtern. Jeden Abend, den ich heimkam, standen mehr Flaschen um und auf dem Tisch herum. Ich ließ dich krankschreiben. Gott sei dank hattest du einen Arzt, der das mitmachte. Irgendwann ging nichts mehr, ich musste einen Krankenwagen rufen. Du kamst in eine Klinik. Intensivstation. Ich verstand das alles nicht, hoffte und bangte, dass du wieder würdest. Nach 11 Tagen konnte ich dich mit nach Hause nehmen.
»Tut mir leid«, sagtest du.
»Entschuldige dich nicht«, bat ich dich, »tu das nur nie wieder.«
»Das kann ich dir nicht versprechen.«


Wie viele dieser Rückfälle ich mit dir erlebte, kann ich heute nicht mehr zählen. Ich habe nie aufgehört dich zu lieben.


Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich mit dir nach Rostock fuhr. Winter 2001. Ich sollte deine Eltern kennenlernen. Mir war mulmig.
»Was, wenn sie mich nicht mögen?«
»Dich nicht mögen?«, hast du gelacht.
Herbert sang »Was soll das?«, ich kreischte mit.
Kurz hinter Lübeck kamen wir in einen Stau, es war dunkel. Wir fuhren Schritttempo, du musstest dringend.
»Ich steige jetzt aus und geh ins Gebüsch«, sagtest du.
Mich überkam Panik. Vor mir fuhren die Autos langsam weiter, aber hinter mir hupten sie.
»Boah!«, sagtest du, »das tat gut.«
Ich sah dich an, du warst wenig beeindruckt von den Fahrern hinter uns. Ich liebte dein freches Grinsen. Irgendwann löste sich der Stau auf. Wir kamen mitten in der Nacht an. Deine Eltern begrüßten uns liebevoll, ich fühlte mich sofort angenommen und willkommen.
 
Am Morgen, beim Frühstück, kicherte dein Vater leise: »Bürgermeisters Töchterchen«, als deine Mutter ein bisschen was aus deiner bewegten Jugend erzählte. Ich lächelte, als du mir später, wir gingen durch Papendorf, gebeichtet hast, dass du dieses Töchterchen entjungfert hattest.
»Ich dachte, du hattest nie eine«, sagte ich.
»War die Einzige«, lachtest du.
Ich lernte deine Schwestern und deinen Bruder kennen. Irgendwie waren die so ganz anders als du. Ernster, hatte ich den Eindruck. Du zeigtest mir »Die weiße Stadt am Meer«, bist mit mir zum Darß, nach Warnemünde zum Markt, wo wir Aal kauften und zu deiner Tante, die ich total cool fand, auch wenn sie viel über Probleme sprach. Als wir durch Rostock spazierten, begegneten wir vielen Frauen, die dich grüßten, wobei sie komisch lächelten. Irgendwann dachte ich, dass du alle Mädels aus deinem und den umliegenden Dörfern hattest.
»Naja«, sagtest du, »alle nicht.«
Ich sah die Blicke der Verkäuferin in dem Juweliergeschäft, sie musterte mich.
»Mach dir nichts draus«, meintest du.
Zumindest stimmten die Fotos, die ich bis dahin von dir gesehen hatte, mit der Realität überein. Du hattest immer ein oder zwei oder mehr Mädels.
»Ich war treu«, sagtest du, »Butcher war schlimmer.«
Butcher, dein bester Jugendfreund. Von dem hast du mir viel erzählt.
»Oh, den würde ich nicht mögen«, gestand ich dir.
»Oder dich in ihn verlieben.«
»Nee, der ist zu klein.«
»Was?«, fragtest du.
»Ich meine für einen Mann. Ich mag Männer, die größer als ich sind.«
»Das weiß ich doch«, lachtest du.


Hätten wir ›damals‹ bereits gewusst … was meinst du, hätten wir irgendwas anders gemacht?

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